Jeder Mensch hat eine Geschichte. Was ist meine Geschichte? Würde ich sie lesen wollen?Ich lese, ununterbrochen, liebe es, in anderer Menschen Geschichten herumzustreifen.Meine? Hier? Jetzt? Wirklich?
Ich bin doch so normal. So kommt es mir vor. In der Schule war ich immer gut, weil gut sein unauffällig ist. Gute Nachrichten bleiben weniger im Gedächtnis als schlechte. Das ist ein seltsames Gesetz des Lebens. Wir merken uns jahrzehntelang eine unbedachte dahingesagte Beleidigung, einen Tadel, einen schiefen Blick, und tragen und nagen daran wie an einem Knochen. Worte, die andere längst vergessen haben, die setzen wir uns ins Herz wie kleine Dornen, die zu klein sind, um sie mit bloßen Fingern herauszuziehen, aber groß genug, um immer wieder zu pieken.
Ein Lob, ein Kompliment, ein Schulterklopfen, eine warme Umarmung als Auszeichnung dafür, dass wir es wieder einen Tag geschafft haben, das klebt sich als Pflaster auf die aufgerissene Haut, Pflaster für Schuldgefühle, für Komplexe, für das Gefühl, nie genug zu sein, nie richtig zu sein, Pflaster über das ungesehene Kind, das immer noch in uns wohnt. Überall aufgerissen: Ängste, Versagen, Ungeliebtsein, Verstoßen, Ausgelacht – Risse. Überall. Darauf das Pflaster. So schön kühl.
Ganz vorsichtig gehst du den ganzen Tag. Siehst du mein Pflaster? Ich heile da!Manche mit Pflastern übersät, vorsichtig, fast ängstlich. Seht ihr meine Pflaster? Vielleicht können es andere nicht sehen, aber wir wissen genau, wo sie kleben. Wir brauchen sie. Sie sind unser Schutzschild.
Und dann: Morgens ist das Pflaster weg. In der Nacht hat es sich losgelöst, heimlich, lautlos. Vielleicht irgendwo an der Bettdecke hängen geblieben, irgendwo hingeschubbert, vielleicht einfach verschwunden, aufgesogen von der Realität. Vielleicht finde ich es später, zerknittert unter dem Bett. Ein zweites Mal klebt es nicht mehr richtig. Sieht auch nicht mehr gut aus. Sah es das überhaupt?
Ja, hier war etwas, das hat wehgetan, es ist Teil von mir.
Aber ist das wirklich das Wichtigste? Ist das, worauf ich mich konzentrieren will? Vielleicht ist es Zeit, nicht mehr nur auf die Wunden zu starren, sondern auf das, was sie heilt. Nicht das nächste Pflaster zu suchen, das kurz lindert, sondern die Wärme zu spüren, die schon längst da ist.
Nicht jeder schiefe Blick ist eine Abwertung. Nicht jedes Schweigen ist Ablehnung. Vielleicht war der Blick einfach müde, das Schweigen einfach nur Gedankenverlorenheit. Vielleicht müssen wir nicht immer in Frage stellen, was wir für Fehler halten. Vielleicht dürfen wir uns öfter erinnern, dass wir mehr sind als das, was uns verletzt hat.
Und vielleicht – nein, ganz sicher – gibt es viel mehr Gutes, als wir manchmal denken. Es ist da, leise, unaufdringlich, aber es ist da. In einem Lächeln, das länger bleibt, als wir erwarten. In einer Berührung, die nicht fragt, sondern einfach nur hält. In einem Moment, in dem wir merken, dass wir nicht allein sind.
Und wenn wir uns auf die guten Nachrichten konzentrieren brauchen wie weniger Pflaster, haben keine Narben mehr, sondern eine goldene Glückshaut, die mit jedem Lächeln ein bisschen dicker wird. Die uns schützt, ohne dass wir sie sehen müssen. Die uns trägt, ohne dass wir sie festhalten müssen. Und die uns immer wieder zeigt: Es gibt so viel mehr als die kleinen Dornen, an denen wir uns festbeißen.

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